celestial harmonies
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BL ACK O SUN
In einem Brief vom 23. August 1874 an seinen ehemaligen Sekretär, den Komponisten Peter Cornelius, schrieb Franz Liszt: „Seit längerer Zeit liegen ein paar Manuskripte fertig, die ich gerne Schott’s Verlag zustellte; indessen befürchte ich mich, daß sie dort ungelegen erscheinen. Schon der Titel: Drei symphonische Trauer-Oden (3 Odes funèbres symphoniques) dürfte abschrecken; obendrein müßten die Partituren—jede von 20 Seiten ungefähr—nebst den Clavier-Transcriptionen (2 oder 4 händig) gleichzeitig herauskommen.“ Liszt hatte die Lage richtig eingeschätzt: von den Trois odes funèbres, komponiert zwischen 1860 und 1866, sollte nur von der dritten, Le triomphe funèbre du Tasse, noch während seines Lebens sowohl die Orchester- als auch die Klavierfassung verlegt werden (nicht aber bei Schott, sondern bei Breitkopf & Härtel). Von den beiden anderen Oden, Les morts und La notte, erlebte Liszt nur noch das Erscheinen der Klavierfassung von La notte (1883 bei Schott); eine Veröffentlichung von Les morts sowie der Orchesterfassung von La notte liess bis drei Jahrzehnte nach Liszts Tod auf sich warten. Die schwierige Veröffentlichungsgeschichte der Oden hat vielleicht zum Teil ihren Grund in der Tatsache, daß sie alle quer zu dem Begriff eines autonomen, in sich ruhenden Kunstwerks stehen. Das kommt in erster Linie daher, daß jede Ode in mehreren Fassungen existiert. Nicht nur gibt es von jedem der drei Stücke neben der Orchesterfassung Versionen für zwei- und vierhändiges Klavier; von Les morts gibt es auch eine Fassung für Orgel, von La notte eine für Violine und Klavier, und von Le triomphe funèbre du Tasse eine—allerdings verschollene—Version für zwei Klaviere. In manchen Fällen ist dabei der Unterschied zwischen vorläufig und endgültig oder Original und Bearbeitung kaum auszumachen. Darüber hinaus ist La notte eine Paraphrase eines früheren Klavierwerks (Il Pensieroso aus dem italienischen Band der Années de pèlerinage) und Le triomphe funèbre du Tasse ein Epilog zu Liszts zweiter Symphonischen Dichtung Tasso: Lamento e trionfo. Besonders letztere Ode ist ohne Verweis auf die etliche Jahre früher entstandene Symphonische Dichtung nur schwer zu verstehen. Zugleich ist es genau diese Unselbständigkeit, dieses Über-sich- hinausweisen, was die drei Oden verbindet. In jeder spielt nämlich die Idee der Erinnerung, der Reminiszenz, eine zentrale Rolle. Bei der zweiten und dritten Ode geht es um eine Reminiszenz in rein musikalischem Sinne, indem beide an eine frühere Komposition erinnern. Im Falle von Les morts aber handelt es sich um eine außermusikalische Erinnerung, nicht nur an die Toten generell, sondern speziell an Liszts Sohn Daniel, der nur wenige Monate, bevor Liszt die Arbeit an Les morts begann, gestorben war. Dem 1860 entstandenen Les morts liegt eine gleichnamige oraison (Gebet) des französischen Priesters, Dichters und Philosophen Félicité de Lamennais zugrunde. Von dieser achtstrophigen Prosadichtung hat Liszt nur die ersten drei sowie die längere letzte Strophe benutzt. Der Text ist nicht, wie üblich, bloß der Partitur vorangestellt, sondern darüber hinaus in der Partitur über die Noten eingetragen. Das macht unzweifelhaft deutlich, wie eng Liszts Musik sich auf den Text bezieht. Trotzdem weist nichts darauf hin, daß Liszt eine Aufführung mit simultan vorgetragenem Text—also eine Art Melodram—im Sinne gehabt hat. Wohl fügte Liszt 1866 einige von einem Männerchor gesungene ins Lateinische übersetzte Fragmente aus Lamennais’ Text hinzu. Namentlich singt der Chor zum einen das jede Strophe abschließende Beati mortui qui in Domino moriuntur, zum anderen den Dialog aus der letzten Strophe (De profundis clamavi, bzw. Te Deum laudamus). Strukturell macht der Beitrag des Chores nur deutlicher, was auch in der reinen Instrumentalfassung der Fall war, dass nämlich der musikalische Verlauf sich sehr stark an dem des Textes orientiert. Die vier Strophen mit ihrem textuell identischen Ende werden getreu in der Musik reflektiert und bloß von einigen das Ganze einleitenden und abschließenden Takten umrahmt. Zugleich aber vollzieht sich zwischen den Strophen eine Entwicklung von einem variativen zu einem durchführungsartigen Verfahren. Während die zweite Strophe sich überdeutlich als Variation auf die erste bezieht, beschränkt sich der Bezug der dritten Strophe zu den vorhergehenden auf den prägnanten Hauptrhythmus. Die vierte Strophe stellt zu Anfang eine regelrechte Durchführung dar, die ab T. 100 zu einem Durchbruch führt. Der 1863–66 entstandenen zweiten Ode La notte liegt, wie gesagt, Il Pensieroso aus den Années de pèlerinage zugrunde. Mit seinem trauermarschähnlichen Rhythmus ist Il Pensieroso das dunkelste Stück aus dem italienischen Zyklus. Der Titel verweist auf die gleichnamige Statue von Lorenzo de’ Medici, die Michelangelo für dessen Grab in der Cappelle Medicee in Florenz schuf. Zugleich aber ist der Partitur ein Vierzeiler von Michelangelo vorangestellt. Dieses Gedicht hängt nicht mit Il Pensieroso, sondern mit einer anderen Statue aus der Medici-Kapelle zusammen: das Bildnis einer schlafenden Frau, die Allegorie der Nacht (La notte) aus einer Bildergruppe auf dem Grab von Giuliano de’ Medici. Dasselbe Gedicht steht auch über der Partitur von Liszts La notte. In La notte ist der trauermarschähnliche Gestus von Il Pensieroso zu einem vollständigen stilisierten Trauermarsch ausgearbeitet. Einer kurzen Einführung folgt eine Orchestrierung des fast vollständigen älteren Klavierstücks, die sich weitgehend ans Original hält. Ein neu hinzukomponierter Übergang leitet zu dem völlig neuen Mittelteil in A-Dur, der durch auffällige Magyarismen—besonders die „ungarischen“ Kadenzen—geprägt ist. Darauf folgt die veränderte Reprise des A-Teils. Das Verhältnis zwischen der dritten Ode, Le triomphe funèbre du Tasse, und der Symphonischen Dichtung Tasso: Lamento e Trionfo, deren Epilog sie darstellt, ist viel lockerer. Einziges musikalisches Bindeglied sind die ersten vier Takte des Tasso- Themas aus der Symphonischen Dichtung, die zum Beispiel in T. 92–95 der Ode wörtlich, an anderen Stellen geringfügig variiert übernommen werden. Das Programm, das Tasso: Lamento e Trionfo—der Symphonischen Dichtung—zugrunde liegt, lässt sich nach Liszts Vorwort als „die große Antithese des im Leben verkannten, im Tode aber von strahlender Glorie umgebenen Genius“ zusammenfassen. Die musikalische Erzählung, die Liszt in Tasso mittels einer ingeniösen Verschränkung von einsätziger Sonatenform und mehrsätziger Sonatenzyklus gestaltet, ist somit das für das 19. Jahrhundert typische per aspera ad astra – durch Nacht zum Licht. Als Epilog folgt Le triomphe funèbre du Tasse der vorausgegangenen Symphonischen Dichtung, ohne jedoch die Handlung weiterzuführen. Demzufolge kann ein narratives Trajekt hier unterbleiben – Themen und Motive, die Klage, Triumph und Trost evozieren, stehen während der gesamten Komposition nebeneinander. Einer Einleitung mit klagenden chromatischen Motiven (T. 1–20) folgt die Aufstellung dreier Themen oder Motivgruppen: eine triumphierende Variante des Tasso-Themas (Des-Dur, T. 21–40), ein ausgesprochen lyrisches Kontrastthema (A-Dur, T. 41–69) und eine Aneinanderreihung klagender Motive (T. 70–91). Nach einer Wiederaufnahme des Tasso-Themas (T. 92–107, jetzt sotto voce in e-moll) folgt ein kantabler Mittelteil (T. 108–139), der von Es-Dur über g-moll zu A-Dur moduliert hin zu einer triumphierenden Transformation des zweiten Themas (T. 140–168, F-Dur). Dieser Transformation schließen sich eine Reprise des Tasso-Themas (T. 169–191, As-Dur) und der klagenden Motive (T. 192–206) an. Eine kurze Überleitung führt zu einer Coda (T. 212–245). Bemerkenswert ist vor allem die harmonische Gestaltung des Anfangs der Coda: über die taktweise chromatische Umspielung der Tonika F im Bass bilden sich abwechselnd Dur-Dreiklänge aus F-, A- und D-Dur. Steven Vande Moortele Trois odes funèbres (1860-1866) Les Morts – Oraison Komponiert nach dem Tod von Liszts Sohn Daniel, gewidmet Liszts Tochter Cosima La Notte Komponiert nach dem Tod von Liszts Tochter Blandine im Kindbett Le triomphe funèbre du Tasse Gewidmet Leopold Damrosch, der auch die Uraufführung mit dem Grand Orchestra of the Philharmonic Society of New York (heute: New York Philharmonic Orchestra) am 24. März 1877 dirigierte
Das Grabmal von Giuliano di Lorenzo de' Medici (1524 bis 1533) Caro m'è 'l sonno, e più l'esser di sasso, Mentre che 'l danno e la vergogna dura; Non veder, non sentir m'è gran ventura; Però non mi destar, deh, parla basso (Michelangelo Buonarroti)