Zehn Sekunden für die Ewigkeit
»Musik, davon verstehe ich nichts, das ist schon richtig, was du machst. Wenn es mir nicht gefällt, dann
sag ich es.« Das klingt ein wenig pragmatisch, was Regisseur Rainer Werner Fassbinder seinem
Komponisten Peer Raben gesagt haben soll. Aber es ist eher Ausdruck eines blinden Vertrauens
zwischen den beiden Film-schaffenden, die auch eine mehr als ein Jahrzehnt dauernde, intensive
Freundschaft verband, bis zu Fassbinders frühem Tod 1982. Eine produktive Zeit, in der 31
gemeinsame Filme entstanden, darunter Klassiker von „Katzelmacher″ über „Lili Marleen″ bis zur TV-
Serie „Berlin Alexanderplatz″. Mit einer Musik, in der Raben die großen Freiräume, die Fassbinder ihm
zugestand, immer voll ausreizte, sich auf Motive von Klassik bis Volksmusik, von Schubert bis
„Westerwaldlied″ stürzte, und damit eine Musik schuf, die—wie in „Die Ehe der Maria Braun″—nicht
untermalenden, sondern musikdramaturgischen Charakter hatte und vor allem die Gefühle der
dargestellten Personen in Töne kleidet. Sein Credo: »Musik ist die Seele des Films«. Fast nebenbei
entstanden dabei auch „Hits″, richtige tolle Songs, zum Beispiel „Each Man Kills The Thing He Loves”
(frei nach Oscar Wilde). Jeanne Moreau sang es in „Querelle″; natürlich interpretierte Ingrid Caven das
Chanson, aber auch der irische Post–Punk–Sänger, Songwriter und Bono–Spezi Gavin Friday, der sich
sonst liebend gern bei Brecht und Brel bediente, benannte sein von Hal Willner produziertes '89er
Solodebüt sogar nach diesem Stück und ließ sich für die Kabarett–Walzer und kammermusikalischen
Rockballaden von Musikern aus dem Lou Reed– und Tom Waits–Umfeld begleiten. Das passt wie die
Faust aufs Auge und ist ein weiteres Indiz für Rabens Crossover–Potential, denn er griff seinerseits für
„Berlin Alexanderplatz″ auf Janis Joplin, Leonard Cohen und Velvet Underground zurück, nachdem er
schon 1970 in „Pioniere in Ingolstadt″ Peter Maffays ersten Hit „Du″ früh erkannt hatte. Im Oktober
2006 wurde Peer Raben von der World Soundtrack Academy für sein Lebenswerk geehrt – nur vier
Monate vor seinem Tod. Dabei war der im niederbayerischen Viechtafell als Wilhelm Rabenbauer
geborene Leib–und–Magen–Komponist Fassbinders zu diesem Arbeitsfeld gekommen wie die
Jungfrau zum Kind, hatte er doch vor dem Treffen mit dem späteren Kult-Regisseur nach einer
Schauspielausbildung an der Folkwangschule Essen schon Engagements an der Schaubühne Berlin
und am Schauspielhaus Wuppertal gehabt, gehörte zu den Gründern des Münchner Action–Theaters
(später: antiteater) und war nicht nur als Mime, sondern selber auch schon als Regisseur tätig. Als für
den gemeinsamen Spielfilm „Liebe ist kälter als der Tod″ noch Musik benötigt wurde, fragte
Fassbinder Raben, ob er die nicht schreiben könne. Denn es fehlte auch das Budget, den Auftrag zu
vergeben. Schließlich habe er in München doch auch Musikwissenschaft studiert. Fassbinders erster
Spielfilm mit Ulli Lommel und Hanna Schygulla erhielt zwei Bundesfilmpreise, und Rabens Musik zum
traurig-schönen Schwarzweiß–Epos wurde auf Anhieb gelobt. So fangen schon mal Karrieren an.
Auch Oliver Augst und Marcel Daemgen waren seit jeher begeistert von Raben und seiner Musik.
Mit ihrem Projekt Arbeit haben sie—nach Eisler-Adaptionen 1998—mit „Fassbinder Raben″ schon
2010 eine »besondere Hommage« geschaffen – »kunstvoll inszenierte Klangwelten, die ein
Eigenleben führen« wie Dr. Steffen Schmidt von der Zürcher Hochschule der Künste zur
Veröffentlichung schrieb. Und jetzt, zwei Jahre später, eine weitere Widmung, „In zehn Sekunden ist
alles vorbei″. Raben lässt Augst & Daemgen nicht los. Daemgen fühlte sich immer angesprochen von
Rabens Zugang zur Musik, von einem, der als ehemaliger Bühnenbildner, Schauspieler, selbst auch
Regisseur, zum Komponisten wurde. Weil einer gesucht wurde und Fassbinder meinte, Raben müsse
das als Musik- und Theaterwissen-schaftler doch leisten können. »…Dieses Unverbildete, dieser
geniale Dilettantismus, den man aus seinem Wirken heraus spürt, dabei aber auch eine hohe
Sensibilität in der Inszenierung – diese Kombination hat wunderbar gepasst«, formuliert Daemgen
seine Faszination. Kollege und Kollaborateur Augst hat noch eine andere Wahrnehmung. »Raben
konnte etwas, was sonst nur Ennio Morricone hingekriegt hat, nämlich den schlimmsten Kitsch
komponieren, dabei in jedes Fettnäppchen treten und trotzdem berührende Musik schreiben.« Die
meiste Filmmusik, nicht nur die deutsche, ist austauschbar. »Einen Peer Raben erkennst du immer.«
Was „In zehn Sekunden…″ von der ersten Auseinandersetzung Augsts und Daemgens mit Raben
unterscheidet, ist der diesmal puristische Ansatz der Liedinterpretationen. Daemgen hat dafür sein 30
Jahre altes Schimmel-Klavier (das ist die Marke, die auch Udo Jürgens spielt) überholen lassen; die
Klavierparts hat er in seinem kleinen Studio eingespielt. Augst singt ebenso pur, fast im Duktus eines
romantischen Kunstliedsängers und erweist sich dabei als deutscher Chansonnier. Auch wenn
konsequent auf Samples verzichtet wurde, eine leicht „elektronische″ Anmutung fehlt auch hier nicht.
»Ich wollte eine Art Verunreinigung hineinbringen«, bekennt Augst und setzt dafür keine teure
Technologie, sondern das spielzeug-ähnliche Mini-Keyboard Casio VL-1 ein, mit dem Trio 1982 den
Welthit „Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha″ aufnahm.
Im Kontrast dazu stehen Original–Orchester–Auszüge von Filmmusiken von Peer Raben. Diese
bisher unveröffentlichten Aufnahmen auf Magnetband hatte Eckart Rahn, der Verleger der meisten
Raben-Werke, auf dessen Label Kuckuck Schallplatten die Augst & Daemgen-CD erschienen ist,
noch in der Schublade. »Charmant« befand Daemgen. »Die Bläser intonieren manchmal falsch, oder
kieksen, das ist echte Musik!« Die Intermezzi und das Prelude sowie das Finale sind Ensemble-
Zwischenspiele, zehn wurden für die Platte ausgewählt, unterschiedliche Stimmungen mit
alpenländischen Bläsern, Kirchenorgel-Klängen, Choral-Motiven, Walzer-Takten, Märchenhaftem
wie in Prokofjews „Peter und der Wolf″. Sie funktionieren ähnlich wie die „Promenade″ bei
Mussorgkis „Bilder einer Ausstellung″, immer unter dem Eindruck des gerade Gesehenen, in den
Bildern Entdecktes. Lebensqualität und Lebensqual, Schönes und Bedrohliches, Reales wie
Skurriles, Absurdes, Alltägliches in Texten von Hans Magnus Enzensberger, Christian Friedrich
Hebbel und Wolf Wondratschek – hier prallt vieles aufeinander woraus die Produktion ihren ganz
besonderen Reiz bezieht. Kann man daraus eine Botschaft der Protagonisten ableiten? »Es gibt eine
einfache Formel für uns, die sich durch all unsere CDs durchgezogen und immer wieder interessiert
hat«, erzählt Augst. »Ganz simpel gesagt: der nach Sinn suchende Mensch.« Schließlich ist man
selber manchmal an dem Punkt, an dem man sich nach Sinn (oder Unsinn) des Lebens fragen mag.
Mit mehr Sinnlichkeit und auch Selbstironie denn je haben sich Augst und Daemgen Raben
diesmal genähert. Deshalb erscheint die CD nicht mehr unter dem Projektnamen Arbeit. Der war
damals als Abgrenzung gedacht, als ein Anti-Statement gegen herkömmliche Pop- und allzu
populäre Konzepte. „Aber der Name hat auch immer so eine Welt aufgemacht, in der alles erklärt
werden musste″, erinnern sich die Musiker. Aber dieses „Verkopfte″ stammt aus einer anderen Zeit.
Arbeit im Sinne von sich an etwas abarbeiten, Musik eher als analytische Abhandlung, das war
gestern. Dass auf dem Cover von „In zehn Sekunden ist alles vorbei″ heute Augst & Daemgen steht,
ist ein klares Signal: hier sind zwei Künstler mit ihrer eigenen Persönlichkeit am Werk,
unakademisch, nicht programmatisch, so gar nicht sachlich. Eine Stimme, ein Piano – das ist wie
Hosen runterlassen.
Frankfurt, Februar 2012
Detlef Kinsler
die zweite CD von augst & daemgen bei kuckuck:
DEIN LIED
kuckuck schallplatten 11110-2
kuckuck schallplatten
potsdamer platz 1
10785 berlin
fernsprecher 030 3464 95050
faksimile 030 3464 95051
www.kuckuckschallplatten.de
arbeit@kuckuckschallplatten.de
1970 - 2020
50 Jahre Kuckuck Schallplatten